1 Woraus besteht Urin?
Etwa 95 Prozent des Ausscheidungsprodukts sind Wasser, die restlichen 5 Prozent sind feste Bestandteile. Im Wasser gelöst sind Kochsalz, Kaliumchlorid und weitere Salze sowie Stoffwechselabbauprodukte. Zu den festen Bestandteilen des Urins gehören «abgeschilferte» Zellen aus dem Harntrakt sowie Kristalle. Diese können mikroskopisch untersucht werden und Hinweise auf Erkrankungen liefern.
2 Welche Funktion hat der Urin?
Mit dem Harn entledigt sich der Körper verschiedener Substanzen: Aus dem Eiweiss in der Nahrung entsteht zum Beispiel das Abfallprodukt Harnstoff. Circa 20 Gramm Harnstoff scheiden Erwachsene täglich mit dem Urin aus. Ausserdem enthält der Harn rund ein halbes Gramm Harnsäure pro Tag, etwa 1,5 Gramm Kreatinin aus den Muskeln und aus verzehrtem Fleisch, Phosphate und verschiedene Säuren, beispielsweise Oxalsäure nach dem Genuss von Spinat. Auch die Abbauprodukte vieler Medikamente werden mit dem Harn ausgeschieden.
Der Körper reguliert über den ausgeschiedenen Urin auch seinen Flüssigkeits-haushalt und den Säuregehalt (pH-Wert). Dieser schwankt im Urin normalerweise zwischen 4,5 (sauer) und 8 (basisch).
3 Wie hilft Urin bei der Diagnostik von Erkrankungen?
Bereits der Geruch kann Hinweise liefern: Beim Fasten oder bei schlecht eingestelltem Diabetes riecht Urin süsslich, weil dann viel Fett abgebaut wird. Dabei entstehen sogenannte Ketonkörper, die mit dem Harn ausgeschieden werden und seinen Geruch verändern. Bei Harnwegsinfektionen mit E.-coli-Bakterien hingegen kann es beim Wasserlösen nach faulen Eiern riechen, weil diese Bakterien Schwefelwasserstoff produzieren.
Moderne Urinteststreifen erfassen viele krankhafte Veränderungen. Beispielsweise enthält der Urin bei Harnwegsinfektionen meist weisse und rote Blutkörperchen sowie die Krankheitserreger. Die Blutkörperchen erkennt der Streifentest, die Erreger lassen sich mit Hilfe von sogenannten «Urinkulturen» mikrobiologisch diagnostizieren.
Bei Nierenerkrankungen kann es zur verstärkten Eiweissausscheidung im Urin (Proteinurie) kommen. Auch dies zeigen Teststreifen an, ebenso wie Blut im Urin (Hämaturie), Ketonkörper (Ketonurie), Nitrit (eine Substanz, die bei manchen bakteriellen Harnwegsinfekten entsteht) oder hohen Blutzucker. Wenn der Blut-zuckerwert die Schwelle von etwa zehn Millimol/Liter übersteigt, dann erscheint der Zucker auch im Harn (Glucosurie).
4 Welche Urinmenge ist normal?
Rund 170 Liter stark verdünnter «Primärharn» entsteht täglich in den Nieren eines gesunden Erwachsenen. Einen Grossteil dieses Wassers und des darin gelösten Kochsalzes nimmt der Körper aber wieder auf, sodass am Ende normalerweise etwa ein bis zwei Liter konzentrierter Harn pro Tag über die Harnblase ausgeschieden werden.
5 Was bedeuten die Urinfarben?
Bei ausreichender Trinkmenge hat der Urin etwa die Farbe von Weisswein. Die gelbliche Farbe stammt von Urochromen, das sind Farbstoffe, die beim Eiweissabbau im Körper entstehen, und vom Urobilin, einem Abbauprodukt des roten Blutfarbstoffs.
Bei Flüssigkeitsmangel ist der Harn stark konzentriert und dunkelgelb. Der Urin kann sich bei Harnwegsinfektionen trüben oder weiss verfärben, wenn er Eiter und massenhaft weisse Blutkörperchen enthält, aber auch durch Kalziumphosphat- oder Harnsäurekristalle sowie bei Ausfluss aus der Scheide.
Bei Leber- oder Gallenblasenerkrankungen sowie bei einem Tumor in den Harnwegen kann der Urin sehr dunkel werden. Pinkfarben, rot oder bräunlich wird er, wenn er Blut, Blutfarbstoff, den Farbstoff Myoglobin aus den Muskeln oder auch bestimmte Farbstoffe aus Lebensmitteln enthält. Etwa einer von sieben Menschen löst nach dem Verzehr von Randen roten Urin. Brombeeren können den Harn ebenfalls rot färben, wenn er einen sauren pH-Wert hat.
Orange kann sich der Harn beispielsweise nach der Einnahme von Vitamin B12 verfärben oder nach dem Verzehr von Rüebli oder Rhabarber in grösseren Mengen. Blauen oder lilafarbenen Urin gibt es bei manchen Harnwegsinfektionen. Verschiedene Arzneimittel verfärben den Harn sogar braun oder schwarz. Normalerweise ist Urin klar. Schäumt er, kann dies auf einen erhöhten Eiweissgehalt hinweisen.
6 Die Geschichte der Uroskopie
Schon vor 6000 Jahren erkannten babylonische und sumerische Ärzte, dass sich bei bestimmten Erkrankungen auch der Urin verändert. Etwa 500 Jahre v. Chr. wird in indischen Sanskrit-Schriften berichtet, dass manche Menschen «Honigurin» hätten, der schwarze Ameisen anlocke – eine der ersten Methoden, um den süssen Urin bei Diabetes mellitus zu diagnostizieren.
Wenig zuverlässig war der erste «Schwangerschaftstest»: Altägyptische Ärzte wässerten dazu Getreidekörner mit etwas Urin von Frauen. Sprossen daraufhin Keimlinge, bedeutete dies, dass die Frau schwanger war. Je nachdem, welche Art von Getreide spross, sagte dies – angeblich – voraus, ob es ein Mädchen oder ein Junge wurde.
Im Mittelalter erreichte die «Uroskopie», wie das genaue Betrachten des Urins genannt wurde, ihren Höhepunkt. Ärzte, die den Urin damals nicht untersuchten, wurden gemäss dem «Jerusalem Code» aus dem Jahr 1090 sogar öffentlich geschlagen.
Im 11. Jahrhundert empfahl ein Gelehrter, den Urin in ein «Matula» genanntes Gefäss zu füllen. Die Matula ähnelte von der Form her einer Harnblase. So liesse sich die genaueste Diagnose stellen, waren die mittelalterlichen Ärzte überzeugt. Sie erkannten, dass die Beigabe von Essig oder das Erhitzen des Urins bei der Diagnose einer Proteinurie half, wenn also die Patientin oder der Patient zu viel Eiweiss im Harn ausschied.
Der Urin wurde um das Jahr 1300 zum wichtigsten diagnostischen Mittel. In lange Roben gekleidet, schwenkten die Ärzte bedeutungsvoll Urin in der Matula, bevor sie der Patientin oder dem Patienten ihren Befund mitteilten. Einige Ärzte hielten es sogar für unnötig, die Kranken zu sehen – ihr Urin genügte.
Als manche «Heiler» schliesslich begannen, anhand eines Blicks in den Urin den Menschen ihre Zukunft oder künftigen Reichtum vorauszusagen, verlor die Uroskopie ihr Ansehen. Die Uroskopiker hiessen nun «Pisse-Propheten».
Später erlebte die Urindiagnostik eine Renaissance. Etwa ab 1660 half das Mikroskop, Kristalle im Urin zu erkennen. In den 1940er Jahren entdeckten Ärzte, dass sich anhand von Zellen im Urin beispielsweise Harnblasenkrebs diagnostizieren liess. Heute zeigen moderne Teststreifen eine Vielzahl von krankhaften Veränderungen im Urin auf einen Blick an.
( Dr. med. Martina Frei)