Eine Frau hält Medikamente in den Hände, weil sie dank der Gendermedizin die richtige Dosierung hinterfragt.

Gendermedizin: Brauchen Frauen eine andere Medizin?

Frauen und Männer reagieren anders auf Medikamente, sie haben bei Erkrankungen andere Symptome und werden auch unterschiedlich behandelt. Die Gendermedizin findet immer mehr Zusammenhänge, was beiden Geschlechtern nützt.

25. März 2024
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Frauen verursachen morgens mehr Autounfälle als Männer. Das ist kein Klischee, sondern eine Tatsache – wenn sie am Vorabend Zolpidem zum Schlafen genommen haben. Denn der weibliche Körper baut dieses Schlafmittel meist langsamer ab als der männliche. Deshalb sollten Patientinnen – zumindest anfangs – nur die Hälfte der Dosis nehmen, die für männliche Patienten gilt.

Arzneimittel können bei Frauen anders wirken

Wie gut Arzneimittel wirken und wie rasch ihre Wirkung nachlässt, wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst, die unter anderem vom Geschlecht abhängen: Männer wiegen im Durchschnitt mehr als Frauen, sie haben grössere Organe, ihre Nieren arbeiten intensiver, und sie haben rund 15 Prozent weniger Körperfett. Der Betablocker Propranolol etwa, der auch zur Migränevorbeugung dient, kann bei Frauen deshalb fast doppelt so hohe Konzentrationen im Blut erreichen wie bei Männern. Auch bei Herzschwäche «fahren» Frauen mit der halben Medikamentendosis meist besser als mit der ganzen.

Facts aus der Gendermedizin

  • Die Nierenfunktion bei Männern ist rund 20 Prozent höher als bei Frauen. Die Nieren sind auch wichtig, um Medikamente wieder auszuscheiden.

  • Viele Krebsmedikamente werden standardmässig so dosiert, dass etwa jede fünfte Frau zu viel davon erhält.

  • Der Anteil an Körperfett beträgt bei Frauen etwa 35 Prozent, bei Männern rund 20 Prozent.

  • Nur 5 Prozent der Grundlagenforschung werden mit weiblichen Zellen gemacht.

  • Das Männerherz wiegt durchschnittlich 300 Gramm und schlägt etwa 70 Mal pro Minute. Das Frauenherz ist circa 50 Gramm leichter und schlägt rund 77 Mal pro Minute.

  • Von zehn Medikamenten, die zwischen 1997 und 2000 wegen unerwünschter Wirkungen vom US-Markt genommen wurden, zeigten acht bei Frauen mehr Nebenwirkungen.

  • Das Risiko von Frauen, wegen Vorhofflimmern einen Schlaganfall zu erleiden, beträgt 25 Prozent, das von Männern 10 Prozent.

Frauen sollten bei der Dosierung nachfragen

Trotzdem sind geschlechtsspezifische Dosierungsempfehlungen bisher nicht üblich. Die Folge: Frauen leiden fast doppelt so häufig an Nebenwirkungen wie Männer. Das betrifft zum Beispiel die Cholesterinsenker (sogenannte Statine) wie auch die gebräuchlichen ACE-Hemmer gegen zu hohen Blutdruck. «Fragen Sie bei Arzneimitteln immer nach, ob die Dosis für Sie die richtige ist», empfiehlt die Medizinprofessorin Catherine Gebhard vom Inselspital Bern allen Frauen. Ihr Forschungsgebiet ist die Gendermedizin. Selbst erwünschte Wirkungen können bei Frau und Mann anders ausfallen: So schützt etwa Acetylsalicylsäure (bekannt zum Beispiel als Aspirin oder ASS) Männer zuverlässiger vor einem ersten Herzinfarkt als Frauen. Frauen dagegen erleiden dank Aspirin seltener Schlaganfälle als Männer.

Frauen haben ein höheres Risiko für Lungenkrebs

Die noch junge Gendermedizin deckt immer mehr solche Zusammenhänge auf. «Aber sie fliessen bisher kaum in die Behandlung ein», stellt Gebhard fest. Ein neuer, berufsbegleitender Studiengang an den Universitäten Bern und Zürich soll nun auch niedergelassene Ärzte dafür sensibilisieren. «Das Interesse daran ist gross», sagt Gebhard, die den Studiengang leitet. Dabei wird es auch um die Vorbeugung gehen. «Frauen, die rauchen, haben ein ungleich höheres Risiko für Lungenkrebs als Männer, selbst wenn sie viel weniger Zigaretten konsumieren», so Gebhard.

Osteoporose bei Männern: häufig übersehen

Krankheiten äussern sich je nach Geschlecht ebenfalls anders – und können deshalb verpasst werden. Eine Depression etwa wird bei Männern seltener erkannt. Denn depressive Männer sind eher aggressiv oder beginnen, übermässig Alkohol zu trinken. Das entspricht nicht den «typischen» Symptomen wie Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und Niedergeschlagenheit, die Ärzte bei dieser Erkrankung erwarten. «Die am häufigsten übersehene Erkrankung bei Männern in Europa ist aber die Osteoporose. Sie gilt als Frauenkrankheit, obwohl ein Drittel der dadurch bedingten Knochenbrüche Männer betrifft», gibt Gebhard zu bedenken.

Geschlechterspezifische Unterschiede beim Herzinfarkt

Bei Frauen dagegen verpassen Mediziner eher den Herzinfarkt. Denn Männer haben meist Symptome wie aus dem Lehrbuch, also Schmerzen und Engegefühl im Brustkorb sowie Schmerzen im linken Arm. Bei Frauen äussert sich der Infarkt öfter mit starker Übelkeit oder Bauchschmerzen. Nach einem Schlaganfall kämpfen Frauen im Allgemeinen mit mehr Spätfolgen und haben eine schlechtere Lebensqualität als betroffene Männer – obwohl die nachweisbaren Schäden im Gehirn der Frauen meist kleiner sind.

Psychosoziale Einflüsse auf den Therapieverlauf 

«Ein Problem ist, dass Frauen mit Herzinfarkt oder Schlaganfall oft nicht sofort medizinische Hilfe suchen. So vergeht wertvolle Zeit. Die Therapie ist bei ihnen ebenfalls oft nicht optimal. Sie kommen beispielsweise seltener in die Reha», weiss Gebhard. Ein Grund dafür sei, dass sie oft meinten, sich wieder um die Familie kümmern und ihren Verpflichtungen nachkommen zu müssen. Es sind also nicht nur biologische Faktoren, die sich medizinisch auswirken, sondern auch solche psychosozialen Einflüsse. «Ihr Einfluss ist viel grösser, als  wir meinen», ist Gebhard überzeugt.

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